Bisse, Löcher, Parasiten – die Krankenakte der Ammoniten

Im Archiv dieser Webseite finden sich zahlreiche Ammoniten, die optisch ansprechend aussehen: das Gehäuse mit Calzit-Ersatzschale bedeckt und gut entwickelt bis hin zum Mundsaum. In Gegensatz dazu stehen jene Ammoniten, die von dieser Norm abweichen: Exemplare mit Verletzungen, krankhaften Fehlbildungen, einem Gendefekt oder einer anderen Anomalie.

Sie wirken kurios und haben bei vielen Betrachtern seit jeher eine gewisse voyeuristische Neugier geweckt. So wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts solche pathologischen Ammoniten dem Fachpublikum als „monströse Kuriositäten“ vorgestellt – ähnlich wie siamesische Zwillinge oder übermäßig behaarte Wolfsmenschen, die auf Jahrmärkten und im Zirkus zur Schau gestellt wurden.

Diese vorwissenschaftliche Sicht änderte sich erst ab dem frühen 20. Jahrhundert, als sich die Paläopathologie zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Arbeitsrichtung innerhalb der Paläobiologie entwickelte.

Inzwischen ist klar definiert, welche Merkmale einen pathologischen Ammoniten ausmachen. Wie der Paläontologe Helmut Keupp erklärt, „… wollen wir unter Anomalien solche Gehäusemodifikationen verstehen, die nur einzelne Exemplare einer Art betreffen und auf Krankheit, Verletzung … oder Parasitosen zurückführbar sind.“

Zur besseren Veranschaulichung von Pathologien führt Keupp einige Beispiele von rezenten Nautiliden an, den heute noch lebenden Verwandten der Ammoniten. Angriffe von Räubern seien demnach die Hauptursache von Verletzungen am Gehäuse.

Die Bissmarken können laut Keupp sogar Hinweise liefern auf das jeweilige Raubtier wie Raubfisch, Oktopus oder Krebs. Aber auch Artgenossen oder bohrende Schnecken spielen bei verletzten Nautiliden eine Rolle. Weniger ins Gewicht fallen demnach Rivalitätskämpfe zwischen Artgenossen oder Kollisionen mit Riffen oder Felsen.

Erstaunlich hoch scheint die Verletzungsrate. 1987 untersuchte der Nautilus-Experte W.B. Saunders 270 Gehäuse von wild gefangenen Nautilus pompilius – 75% wiesen verheilte Verletzungen auf! „Nicht ausgewachsene Individuen sind infolge ihres dünnen Gehäuserandes wesentlich anfälliger für Verletzungen als ausgewachsene Tiere, deren Peristom durch Schalenverdickung verstärkt ist“, so Keupp.

Fressfeinde gibt und gab es seit jeher genug. Zur Zeit der Ammoniten und fossilen Nautiliden waren dies: große Schwimmsaurier wie Ichthyosaurier, Plesiosaurier und auch Krokodile, Mosasaurier und Schildkröte. Zudem räuberische Fische, verschiedene Haie, eine Vielzahl unterschiedlicher Krebstiere und sogar die eigenen Artgenossen. Gerade bei wendigen Schwimmsauriern wie dem Ichthyosaurier hatten kleinere und mittelgroße Ammoniten wohl kaum eine Chance zu entkommen – sie wurden einfach verschluckt. Dies ließ sich anhand von Untersuchungen der Mageninhalte von Räubern nachweisen, sowie durch Kotproben und Speiballen.

Die verschiedenen Verletzungsarten sind an den Gehäusen der Ammoniten bis heute sichtbar. So lassen sich Bissmarken der Zähne von Schwimmsauriern erkennen und einige u- und v-förmige Schalenausbrüche entlang des Mundsaums deuten auf Fischbisse hin. „Rippenscheitel“ sind dagegen die regenerierten Verletzungen des Mundsaums, verursacht durch scherentragende Krebse.

Das gleiche gilt für „Bandschlitze“, wo die Scheren des Krebses die Ammonitenschale ab der Mündung förmlich aufschnitten. Punktartige Mundsaumverletzungen bei den Ammoniten können hingegen ein Hinweis auf die Mundwerkzeuge eines Krebses sein.

Für die Opfer verliefen die Angriffe der Fressfeinde indes nicht immer tödlich. Mit der Zunahme der Räuber ab dem Mesozoikum (Erdmittelalter) entwickelten die Ammoniten zudem wirkungsvolle Schutzmaßnahmen:

 

  • Die Gehäuse wurden kugeliger und dadurch weniger angreifbar
  • Es bildeten sich Stacheln und Knoten und die Gehäuse wurden skulptierter (Wellblech-Struktur)
  • Einschnürungen verstärkten die Schale
  • Tendenz zum Riesenwuchs
  • Ausgestaltung des Mundsaums

Der Heilungsprozess nach einer Gehäuseverletzung erfolgte entweder an der Mündung, der Wohnkammer hinter der Mündung oder am Phragmokon: „Da diese drei Gehäuseabschnitte durch unterschiedliche Fähigkeiten zur Schalensekretion ausgezeichnet sind, nimmt das Regenerationspotential in der aufgeführten Reihenfolge ab“, erklärt Helmut Keupp.

Für verletzte Ammoniten bedeutete das: Während ein Schalenverlust an der Mündung oftmals ausgeglichen werden konnte, war Heilung am Phragmokon aufgrund von fehlendem Mantelgewebe selten möglich: Die Verletzungen führten in der Regel zu einem unkontrollierten Fluten der Kammern – der Ammonit starb.

Text: Stephan Hack

Fotos: Stephan Hack (6), Rolf Roth (2), Wikipedia (2)

Zu den Bildern:

Titelfoto: Eine vermutlich tödliche Mehrfachverletzung am Phragmokon einer Sonninia (Euhoploceras) acanthodes/Wutachgebiet

Foto 1: „Rippenscheitel“ (forma aegra vertzicata ) bei einer Orthogarantiana schroederi aus Bopfingen. Laut Günter Schweigert vom Naturkundemuseum Stuttgart kann als Ursache „eine punktuelle Verletzung des Mantelgewebes angenommen, vielleicht durch eine Krebsschere“.

Foto 2: Blasenartige Verdickung im Wohnkammerbereich bei einer Ludwigia sp./Wutachgebiet. Gründe könnten ein Infekt oder ein Krebsangriff sein.

Foto 3: Rezenter Nautilus pompilius aus dem Pazifik mit zwei Verletzungen, vermutlich durch Fischbisse. Bei der ersten Verletzung am Venter entstand bei der Regeneration eine Störung des Farbmusters.

Foto 4 + 5: Die Schwimmsaurier Plesiosaurus (links) und Ichthyosaurus

Foto 6: Stephanoceras umbilicum mit abgelöster Wohnkammer („forma aegra undatiispirata“). Der Paläontologe Günter Schweigert geht davon aus, „dass ein nicht erhaltungsfähiger Aufsiedler überwachsen wurde“.

Foto 7: Ausbildung einer Doppelreihe von Knoten an der Innenflanke eines Kepplerites sp., teilweise bis an die Nabelkante. Ursache kann eine Mundsaumverletzung sein.

Foto 8: Schalenverletzung durch einen Räuber an einem Procerites hodsoni/Wutachgebiet. Hiezu schreibt Helmut Keupp: „Während der Verletzung eingedrückte, aber nicht abgebrochene Schalenpartien, können im Zuge des Unterfangens der Verletzungsstelle durch regeneratives Schalenmaterial fixiert werden.“

Foto 9: Brasilia laevigata aus Geisingen/Donau. Aus einer Anomalie im Nabelbereich entwickelt sich auf der linken Seite eine flachere, gerundete Nabelkante.

 

Literaturhinweise:

Helmut Keupp, 2012: Atlas zur Paläopathologie bei den Cephalopoden, Berlin

Saunders, W.B. und Landman, N., 1987: Nautilus – The Biology and Paleobiology of a Living Fossil. New York/London

Der Spiegel, 2011: „Willkommen im Menschenzoo“